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Präzision ohne Verständnis der innewohnenden Beschränkungen ist nutzlos.
Kogitor Kwyna,
Archive der Stadt der Introspektion
Auf Poritrin wurden schon seit so langer Zeit Sklaven gehalten, dass sich die Bevölkerung an das bequeme Leben gewöhnt hatte. Nachdem die Aufständischen den planetaren Handel unter ihre Kontrolle gebracht hatten, verbreitete sich die Nachricht von den Unruhen zu allen Zensunni und Zenschiiten in Starda. In der ganzen Stadt – und darüber hinaus – wurden die Arbeiten eingestellt. Die Landwirtschaftssklaven verließen die Felder, einige setzten sogar das Zuckerrohr in Brand, andere sabotierten Agrarmaschinen.
Ishmael und seine erschöpften Gefährten, die zusammen mit den anderen jungen Handwerkern über den Granitwänden der Isana-Schlucht kampierten, verbrachten die Nacht in ihren Zelten, die in der abendlichen Brise des Hochlands flatterten.
Plötzlich wurde Ishmael aus dem Schlaf gerissen, als Aliid ihn schüttelte. »Ich habe mich hinausgeschlichen und die Aufseher belauscht. Im Delta ist es zu einem Sklavenaufstand gekommen! Hör mir zu ...«
Die beiden Jungen kehrten an die Glut ihres Lagerfeuers zurück und kauerten sich in der kühlen Nacht davor. Aliids dunkle Augen funkelten im schwachen Licht. »Ich wusste, dass wir nicht mehr Jahrhunderte auf unsere Freiheit warten müssen.« Sein Atem roch nach dem würzigen Haferbrei, den sie als Abendmahlzeit bekommen hatten. »Bel Moulay wird uns Gerechtigkeit bringen. Lord Bludd muss unsere Forderungen erfüllen.«
Ishmael runzelte die Stirn und konnte die Begeisterung seines Freundes nicht recht nachvollziehen. »Du kannst nicht erwarten, dass die Adligen mit einem Achselzucken die Gesellschaft von Poritrin ändern, nachdem jahrhundertelang alles reibungslos funktioniert hat.«
»Ihnen bleibt keine andere Wahl.« Aliid ballte die Hand zur Faust. »Ach, ich wünschte mir, wir wären in Starda, damit wir uns der Revolte anschließen könnten. Ich will mich nicht hier draußen verstecken. Ich will mitkämpfen.« Er schnaufte angewidert. »Wir verbringen unsere Zeit damit, zum Ruhm unserer Unterdrücker hübsche Bilder an einer Steilwand anzubringen. Klingt das etwa sinnvoll?« Der Junge lehnte sich zurück, und ein Lächeln stahl sich in seine schmalen Gesichtszüge. »Aber wir können etwas dagegen tun. Sogar hier.«
Ishmael ahnte, dass ihm Aliids Vorschlag nicht gefallen würde.
* * *
Mitten in der Nacht, nachdem sich die Aufseher in ihren warmen Baracken schlafen gelegt hatten, ließ Ishmael sich für die Sache gewinnen, weil Aliid ihm versprach, dass es kein Blutvergießen geben würde. »Wir wollen nur unseren Standpunkt klarmachen«, sagte Aliid und hatte die Lippen zu einem humorlosen Grinsen gefletscht.
Dann huschten die beiden von Zelt zu Zelt und sammelten Verbündete um sich. Trotz der schwelenden Unruhen im fernen Starda waren die Wachen nicht übermäßig besorgt wegen einer Handvoll Jungen, die von der Arbeit an den Schluchtwänden erschöpft waren.
Die Jungen flüsterten im Sternenlicht und stahlen Geschirr aus dem Geräteschuppen. Mit schwieligen Fingern legten sie die Gurte an, schnallten sie an Brust und Taille fest, sicherten die Schlaufen unter den Armen und befestigten die Kabel an den Winden.
Vierzehn junge Sklaven seilten sich an der Schluchtwand ab, wo sich die Sage der Bludd-Dynastie in zehnfacher Lebensgröße ausbreitete. Sie hatten schwer geschuftet, um jedes Pixel der Darstellung anzubringen, gemäß den Entwürfen, die nach Lord Bludds Wünschen angefertigt worden waren.
Nun ließen sich die Jungen verstohlen an den Seilen hinab und liefen mit bloßen Füßen über die glatte Felswand. Aliid schwang wie ein Pendel hin und her und schlug mit seinem spitzen Steinhammer bunte Kacheln ab, um die Bilder zu schänden. Das ferne Donnern der Stromschnellen und das Heulen des Windes übertönte den Lärm der Werkzeuge.
Ishmael ging ein Stück tiefer als sein Freund und schlug auf eine Fläche blau emaillierter Kacheln ein. Aus der Ferne betrachtet hätten sie das verträumte Auge eines alten Lords namens Drigo Bludd ergeben.
Aliid hatte gar keinen konkreten Plan. Er hämmerte wahllos, bewegte sich zur Seite und stieg dann wieder hinauf. Mit seinem kleinen Hammer zerstörte er in zufälligem Muster Hunderte von Kacheln des Mosaiks. Die bunten Scherben stürzten in die bodenlose Dunkelheit. Die anderen Sklavenjungen setzten die Beschädigung der neuen Sehenswürdigkeit von Poritrin fort, als könnten sie damit die Geschichte umschreiben.
Leise kichernd arbeiteten sie stundenlang. Obwohl sie sich im Sternenlicht nur als undeutliche Umrisse sahen, grinsten sich Aliid und Ishmael in kindlichem Vergnügen über ihren Vandalismus an, um sich sofort wieder ihrem Zerstörungswerk zu widmen.
Als sich schließlich der Horizont mit den ersten Lichtstreifen färbte, zogen sich die Jungen nach oben und brachten das Geschirr ins Lager zurück. Dann krochen sie in ihre Zelte. Ishmael hoffte, wenigstens noch eine Stunde schlafen zu können, bevor die Aufseher sie weckten.
Sie kehrten unbemerkt zurück. Als es dämmerte, schrillte der Alarm, und Männer brüllten durcheinander. Sie riefen die jungen Arbeiter zusammen und ließen sie am Rand der Schlucht Aufstellung nehmen. Die Aufseher verlangten mit geröteten Gesichtern eine Antwort und wollten wissen, wer für die Schändung verantwortlich war. Sie peitschten die Jungen aus, einen nach dem anderen. Einige wurden so schwer verletzt, dass sie mehrere Tage nicht an die Arbeit gehen konnten. Sie verweigerten ihnen die täglichen Mahlzeiten und kürzten die Wasserrationen.
Aber natürlich wusste keiner der Jungen etwas. Sie behaupteten steif und fest, die ganze Nacht in ihren Zelten geschlafen zu haben.
* * *
Die bösartige Verunstaltung des großen Wandbildes in der Schlucht war der letzte Schlag für Lord Bludd. Während des Aufstandes hatte er versucht, Vernunft und Geduld walten zu lassen. Wochenlang hatte er sich bemüht, Bel Moulay mit zivilisierten Mitteln zu bewegen, die Revolte zu beenden.
Nachdem er den Tag der Schande verhängt hatte, musste er sich eingestehen, dass die psychologische Demütigung bei den unzivilisierten Sklaven nichts bewirkt hatte. Es hatte die Gefangenen überhaupt nicht bekümmert. Und schließlich hatte er erkannt, dass er sich selbst etwas vorgemacht hatte. Die Clans der Zensunni und Zenschiiten gehörten zum Abschaum der Menschheit. Sie waren fast so etwas wie eine andere Art. Diese undankbaren Primitiven waren nicht in der Lage, für das Allgemeinwohl zu arbeiten, und auf die Duldung kultivierter Menschen angewiesen. Ihre Taten waren der Beweis, dass sie kein moralisches Gewissen besaßen.
Die Sklaven hatten die Installation der Schilde an den Armada-Kriegsschiffen sabotiert und sich geweigert, die Arbeit an Tio Holtzmans bedeutenden neuen Erfindungen fortzusetzen. Ihr bärtiger Rädelsführer hatte Aristokraten als Geiseln genommen und hielt sie in Sklavenbaracken fest. Moulay hatte den Raumhafen von Starda verwüstet und damit jeden Import oder Export unterbunden, jeden Handel zum Erliegen gebracht. Seine kriminellen Anhänger hatten Gebäude in Brand gesteckt, lebenswichtige Einrichtungen zerstört und die landwirtschaftliche Produktion lahmgelegt. Doch viel schlimmer war, dass Bel Moulay die Gleichberechtigung für alle Sklaven verlangt hatte – als hätte ein Mensch ein Grundrecht auf Freiheit, ohne sie sich verdient zu haben! Solche Ideen waren ein Schlag ins Gesicht der Milliarden, die gekämpft und das Leben verloren hatten, um die Denkmaschinen in Schach zu halten.
Bludd dachte an die Todesopfer auf Giedi Primus, die Opfer des Cymek-Angriffs auf Salusa Secundus und an die Zauberinnen von Rossak, die sich geopfert hatten, um die Cymeks abzuwehren. Es widerte ihn an, dass dieser Bel Moulay unzufriedene Sklaven aufstachelte und damit das Überleben der Menschheit gefährdete. Diese buddhislamischen Nichtsnutze waren von einer beispiellosen egoistischen Arroganz!
Lord Bludd versuchte, sich mit ihnen zu verständigen. Er hatte erwartet, dass sie vernünftigen Argumenten nachgaben, die Gefahren verstanden und sich für die historische Feigheit ihres Volkes schämten. Nun musste er einsehen, dass er sich Illusionen gemacht hatte.
Als er von der Sabotage am Mosaik hörte, flog er zur engen Schlucht und starrte fassungslos von seiner Beobachtungsplattform auf die Bescherung. Erschüttert sah er mit eigenen Augen die schrecklichen Schäden, die man seinem wunderschönen Bild zugefügt hatte. Man hatte die stolze Geschichte der Familie Bludd in den Dreck gezogen! Eine solche Beleidigung konnte Lord Niko Bludd nicht tolerieren.
Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er sich ans Geländer klammerte. Sein Gefolge war erschrocken über seine Reaktion, über die Entschlossenheit, die unter den gepuderten und parfümierten Gesichtszügen brodelte, die stets einen so kultivierten Eindruck machten.
»Dieser Wahnsinn muss umgehend aufhören.« Seine eisigen Worte galten den Dragonerwachen. Er wandte sich dem Soldaten in der goldenen Rüstung an seiner Seite zu. »Sie wissen, was zu tun ist, Commander.«
* * *
In seiner Bestürzung über das unerklärliche Verhalten seiner Sklaven war Tio Holtzman glücklich über die Einladung, Lord Bludd zu begleiten. Er war begierig darauf, den ersten großmaßstäblichen praktischen Einsatz seiner Schilde mitzuerleben.
»Nur eine Übung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Tio – aber sie ist leider unumgänglich«, sagte Bludd. »Trotzdem eine Gelegenheit, Ihre Erfindung im Einsatz zu beobachten.«
Der Wissenschaftler stand neben dem Aristokraten auf der Plattform. Norma Cevna und eine Handvoll Adliger in prächtiger Kleidung warteten hinter ihnen und schauten auf die Menge der aufrührerischen Sklaven hinab. Der Gestank nach Rauch hing in der Luft, und kehlige Schreie und bedrohliche Sprechchöre drangen vom belagerten Raumhafen zu ihnen herauf.
Am Boden rückten die Dragonerwachen vor, die von schimmernden Körperschilden geschützt waren. Der Trupp bewegte sich wie ein unaufhaltsamer Keil auf den Raumhafen zu. Die Männer waren mit Schlagstöcken und Speeren bewaffnet. Einige hatten Chandler-Pistolen dabei und waren bereit, die Unruhestifter scharenweise niederzumähen, falls es so weit kam.
Holtzman hielt sich am Geländer fest und blickte auf die vorrückenden Dragoner. »Sehen Sie, die Sklaven können uns nicht aufhalten.« Norma war blass geworden. Sie wusste, dass ein Gemetzel bevorstand, aber sie war nicht in der Lage, dagegen zu protestieren.
Die Männer in den goldenen Rüstungen marschierten rücksichtslos weiter, obwohl die wütenden Sklaven versuchten, ihnen den Weg zu versperren. Sie warfen sich gegen die Schilde der Dragoner. Die Soldaten in der ersten Reihe hoben die Knüppel und ließen sie niedersausen. Knochen brachen. Sie prügelten auf jeden ein, der sie nicht vorbeilassen wollte. Die Sklaven schrien und formierten sich um. Sie griffen in Massen an, aber sie konnten die Schilde nicht durchdringen. Die Dragoner schoben sich einfach durch das Getümmel der aufgebrachten Sklaven.
Der Mob wich zurück und bildete einen Riegel, um den Anführer des Aufstands abzuschirmen. Bel Moulay, der auf der Ladefläche eines Bodenfahrzeugs stand, feuerte sie mit klarer Stimme auf Chakobsa an. »Bleibt standhaft! Glaubt weiter an unseren Traum! Das ist unsere einzige Chance! Alle Sklaven müssen jetzt zusammenhalten!«
»Ach, warum haben sie nicht genauso gegen die Denkmaschinen gekämpft?«, brummte Niko Bludd, und mehrere Adlige in seinem Gefolge lachten zustimmend.
Als der Vorstoß der Dragoner schließlich durch die Masse der Sklaven zum Stocken gebracht wurde, übertönte der Befehlshaber des Trupps den Lärm. »Ich habe den Befehl, den Verräter Bel Moulay zu verhaften. Liefern Sie ihn unverzüglich aus!«
Keiner der Rebellen rührte sich. Kurz darauf zogen die Dragoner ihre Chandler-Pistolen, schalteten die Schilde ab und eröffneten das Feuer. Nadelfeine Kristallsplitter ließen Wolken aus Blut und Fleischfetzen aufspritzen. Menschen schrien und wollten fliehen, mussten jedoch feststellen, dass sie sich zu eng um Bel Moulay geschart hatten und sich nicht von der Stelle bewegen konnten.
Der bärtige Anführer rief Anweisungen in seiner Geheimsprache, aber nun breitete sich Panik unter den Sklaven aus. Allmählich zerstreuten sie sich. Immer mehr fielen dem Regen aus Kristallpfeilen zum Opfer. Hunderte wurden getötet oder verstümmelt.
»Keine Sorge«, sagte Bludd aus dem Mundwinkel. »Sie haben den Befehl, Bel Moulay lebend gefangen zu nehmen.«
Norma wandte sich ab, atmete tief durch und befürchtete, sich über das Geländer der schwebenden Plattform zu übergeben. Aber sie presste die Lippen fest zusammen und hatte sich bald wieder in der Gewalt.
Während die Sklaven starben oder aus Bel Moulays Nähe flüchteten, griff sich der Anführer einen Stab und versuchte, sie wieder um sich zu sammeln. Doch als die Dragonerwachen freie Bahn hatten, stürmten sie wie eine wilde Horde zu ihrem Ziel. Die Sklaven heulten laut vor Bestürzung auf, als sie sahen, wie ihr Anführer unter den Schlägen goldener Panzerhandschuhe zu Boden ging.
Als sie Moulay in Schwierigkeiten sahen, formierten sich die überlebenden Rebellen zu wütenden Gruppen und versuchten, neuen Mut zu fassen. Aber die Dragonerwachen setzten erneut ihre Pistolen ein, worauf der Widerstand sofort zusammenbrach.
Die Soldaten zerrten Bel Moulay fort, während bewaffnete Fahrzeuge und Bodentruppen auf den Raumhafen strömten und die gefangenen Adligen aus den Baracken retteten.
Von der Beobachtungsplattform schaute Niko Bludd traurig auf die Blutlachen und verstümmelten Leichen, die das Landefeld übersäten. »Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. Ich habe den Sklaven genügend Gelegenheiten gegeben, wieder Vernunft anzunehmen, aber sie haben mir keine andere Wahl gelassen.«
Trotz des Gemetzels konnte Holtzman seine Freude nicht verbergen, wie gut sich seine Körperschilde bewährt hatten. »Ihr Verhalten war in jeder Hinsicht ehrenvoll, Mylord.«
In sicherem Abstand über der Gefahr schwebend beobachteten sie noch eine Weile die folgenden Aufräumarbeiten. Dann lud Bludd sie alle in seine prächtige Residenz ein, um die Befreiung von Poritrin zu feiern.